Wolfgang Thierse
„Willy
Wolff zum Hundertsten (1905-1985).
Malerei, Collagen, Zeichnungen, Walzungen und
Monotypien“,
2. Sonderausstellung d. Städtischen Galerie Dresden,
Eröffnung 9. Februar 2006
Anrede,
für
eine Willy-Wolff-Retrospektive gibt es wohl wirklich keinen besseren Ort als
Dresden, das muss ich als Berliner neidlos eingestehen. Und ich bin der
Städtischen Galerie sehr dankbar dafür, dass sie sich dem Lebenswerk dieses
großen Künstlers verpflichtet fühlt. Dresden war die Heimatstadt von Willy
Wolff, war sein Lebensmittelpunkt. Seine Kunst aber, die hatte mehr im Blick
als nur eine Stadt, nur eine Tradition, nur einen Stil. Sie verharrte nicht in
künstlich gesetzten Grenzen, sondern überschritt diese wie selbstverständlich.
Für
mich war Willy Wolff schon zu tiefsten DDR-Zeiten, in den späten 60er und
frühen 70er Jahren, eine Entdeckung, eine Ausnahmeerscheinung. Er war jemand,
der mit seiner Kunst andere ermutigte. Ermutigte insofern, als seinen Arbeiten das
trotzige Beharren ihres Schöpfers auf intellektuelle Freiheit, auf
Individualität, auf Modernität unauslöschbar eingeschrieben war.
Seine
Kunst stand quer zum Immergleichen, zum Deklamatorischen, zum Harmoniediktat,
zum „sozialistischen Realismus“. Sie verweigerte sich dem
flüchtigen Blick, der routinierten Wahrnehmung – und genau das darf man
von zeitgenössischer, von moderner Kunst ja auch erwarten: Dass sie ästhetisch
gegen den Strich bürstet, dass sie Erfahrung sublimiert und Rätsel aufgibt, dass
sie unserer Phantasie auf die Sprünge hilft, dass sie sich ideologischer
Vereinnahmung verweigert und – im besten Falle – neue
Freiheitsräume erobern hilft. Genau das hat Willy Wolff gekonnt, das hat seinen
Ruf in der künstlerischen Subkultur der DDR begründet. Und das macht ihn mit
Hermann Glöckner, Gerhard Altenbourg, Carlfriedrich Claus vergleichbar.
Willy
Wolff ist im wahren Sinne des Wortes eine Jahrhundertgestalt. Seine
Biographie, sein Werk sind geprägt durch die großen Auf- und Umbrüche des 20. Jahrhunderts
in Gesellschaft, Kultur und Politik, durch die Erfahrung von Krieg und
Diktatur, von hehren Glücksversprechen und hohlem Pathos. Sie sind aber auch
geprägt von dem Wissen um die Möglichkeiten künstlerischer Ausdruckskraft,
intellektueller Neugier, subversiven Denkens.
1905
als Sohn eines Schneidermeisters und einer Wäscherin geboren, absolviert der
Fünfzehnjährige eine Ausbildung zum Kunsttischler. Er interessiert sich für die
Wandervogelbewegung, hält Kontakt zu linken Jugendverbänden, liest Max Stirner
und belegt Kurse an der Staatlichen Kunstgewerbeschule Dresden.
Von
1927 bis 1933 ist Willy Wolff Student an der hiesigen Akademie der Künste,
zunächst bei Richard Müller, dem „Zuchtmeister der Dresdner
Zeichenschule“ (wie die Schüler ihn nennen), dann in der Klasse von Otto
Dix, dessen Meisterschüler er wird und dessen gut trainierter
gesellschaftskritischer Blick ihn künstlerisch prägt. Im Zuge der
Machtübernahme der Nationalsozialisten verliert Otto Dix 1933 seine Professur,
und für Willy Wolff, der wenige Jahre zuvor der KPD beigetreten war, endet das
Studium. Er wird von 1940 bis 1945 zum Kriegsdienst verpflichtet. Die
Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945 vernichten sein Frühwerk fast
vollständig.
Als
Willy Wolff nach Kriegsende seine künstlerische Tätigkeit wieder aufnimmt, ist
er über vierzig Jahre alt, aber alles andere als selbstgewiss und zufrieden. Kreative
Rastlosigkeit zeichnet ihn künftighin aus. Er ist auf der Suche – und
wird dies bleiben, bis ins hohe Alter: Auf der Suche nach neuen künstlerischen
Techniken und Herausforderungen, nach spannenden Themen und Materialien, nach
Form- und Farbumbrüchen in der Malerei, in der Collage, in der Skulptur, in der
Objektgestaltung. Sein unverstellter Blick, sein produktiver Eigensinn, seine
Kreativität sind dem offiziellen Kunstbetrieb lange Zeit suspekt. Seine
Arbeiten gelten als anstößig, werden ignoriert, gering geschätzt,
missverstanden. Doch er lässt sich nicht beirren. In einem Ateliergespräch
erklärt er, fast siebzigjährig (Zitat): „Manche Leute sagen, ich sei zu
sprunghaft, das bin ich nicht. Ich möchte aber nicht Altbewährtes
strapazieren.“1 Und
diese Maxime verfolgt er konsequent.
Schon
während seines Studiums in Berührung gekommen mit dem Expressionismus, dem
Dadaismus, der Neuen Sachlichkeit, lässt sich Willy Wolff nach 1945 nicht mehr
auf einen alleinigen Erfahrungsraum, auf ein verordnetes Erbe, auf
vordefinierte Deutungsmuster festlegen. Wie die Luft zum Atmen braucht er für seine
Arbeit die künstlerische, die intellektuelle Reibung – und zwar nicht nur
mit der Geschichte, sondern auch und gerade mit aktuellen Entwicklungen,
insbesondere mit moderner westeuropäischer Kunst. Und er setzt diesen Anspruch
trotzig durch. Insbesondere zwei Englandreisen, 1957/58, vermitteln ihm
wichtige Anregungen und Ideen, die er in seinen Arbeiten der 60er und 70er
Jahre immer wieder aufgreift, weiterentwickelt, lebendig macht.
Sein
bildkünstlerisches Werk, das nun entsteht, weist eine bemerkenswert lebendige,
von der frühen Pop-Art geprägte Formensprache auf, die mit zeitgleichen oder
späteren Bildfindungen westlicher Künstler zu korrespondieren scheint. Eine
Kunst, die in der DDR in keinen Kanon passt. Was anderswo schnell Furore macht,
wird von der DDR-Kunstkritik, wenn ich es richtig beobachtet habe, nur sehr
verzögert zur Kenntnis genommen.
Verweise
auf die Pop-Art-Anklänge bei Willy Wolff finden sich heute überall in der
Literatur, er wird gerne als Kronzeuge dafür benannt, dass es auch im Osten so
etwas gegeben hat. Und selten fehlt ein Hinweis auf das ironische Tafelbild zu
Lenins 100. Geburtstag von 1970. Aber das ist dann auch schon fast alles,
was über Willy Wolff zu lesen ist: In dieser Verknappung nur Anekdotisches,
mehr nicht.
Und
hier offenbart sich ein Dilemma: 16 Jahre nach Mauerfall gibt es zwar eine
stattliche Anzahl von Monographien zur Kunst in der DDR. Aber ein eigenes,
ausgewogenes Kapitel über Willy Wolff, eine persönliche Würdigung, sucht man
– so weit ich sehe – in ihnen meist vergebens. Sein Name taucht
eher in den summarischen Kapiteln auf, dort, wo es um Besonderheiten der
einzelnen Kunstzentren geht oder um ausgefallene Positionen. Im Mittelpunkt
dieser neuen „Standardwerke“ stehen nach wie vor die Anderen, die
„Üblichen“. Und Willy Wolff fristet weiter ein Dasein als
weitgehend Unbekannter.
Dabei
hat doch gerade er eine singuläre künstlerische Position entwickelt und
engagiert vertreten – in Zeiten rigider Kulturpolitik. Willy Wolff
öffnete im eigenen Werk die Fenster zur modernen europäischen Kunst, zur
Avantgarde – aus tiefer Überzeugung und darum auch mit großer
Leidenschaft. Seine Malerei, seine Skulpturen, Montagen und Metallobjekte
bekunden geistige Verwandtschaft mit jenen Traditionslinien, die geprägt sind
von den Pionieren der Moderne wie Picasso, wie Max Ernst und Joan Miro, wie
Rudolf Belling und Hans Arp, wie Henry Moore und Alberto Giacometti, wie
Alexander Calder und Jean Tinguely. Von ihnen lässt Willy Wolff sich ästhetisch
anregen, mit ihnen setzt er sich auseinander: Auf ihre Reduktionen,
Verfremdungen und Abstraktionen, auf ihre Skulpturen und schwebenden
Raumgebilde antwortet er mit eigenen Lösungen. Ihnen stellt er seine
individuellen Welt- und Zeitdeutungen, seine im Werk geronnenen Kommentare zur
Seite.
Und
die Materialien, die dabei Verwendung finden, sind ebenso vielfältig wie die
Bild- und Gestaltfindungen: Restbestände eines alten Klaviers können es sein,
wie in der Arbeit mit dem Titel „Schwingen“ von 1966. Es können
aber auch kleinere Alltagsgegenstände und Fundobjekte – Messingteile,
Werkzeuge, alte Uhren, Spieldosen, Scharniere – sein, wie in den
Metallobjekten der 60er und 70 Jahre. Die unterschiedlichsten Materialien
verwandelt der Künstler in phantasiegeladene Dingwelten, in spielerische
Botschaften, in heitere Verweise auf erträumte oder verstellte Wirklichkeiten. Tote
Gegenstände bekommen ein neues Leben, doch dieses will entschlüsselt sein. Freude
am dialogischen Spiel, am Enträtseln fremder Welten – das fordern diese
Arbeiten ein.
Willy
Wolff braucht keine Kunstdoktrin, keine Einredungen von oben. Er schafft sich
seinen ureigenen, assoziationsreichen „Realismus“, seinen eigenen
künstlerischen Kosmos. Ironie statt Zeitgeist, Experiment statt Regelwerk
– das ist sein Weg.
Natürlich
hat ihm die geringe öffentliche Anerkennung kräftig zugesetzt. Private Sammler,
kleinere Museen kauften einzelne Arbeiten, was sehr verdienstvoll, mitunter
auch sehr mutig war, aber die angemessene öffentliche Würdigung blieb Willy
Wolff lange versagt. 1970 sagte er in einem Gespräch (Zitat): „Ich bin
Mitte 60 … und habe noch niemals eine Reihe von meinen Bildern an einer
Wand gesehen. Ich weiß gar nicht, wie das wirkt, ich habe hier keinen Abstand
… ich weiß nicht wohin mit den Bildern, die Garage ist voll.“ 1976
dann, im 71. Lebensjahr des Künstlers findet in Dresden seine erste große
Personalausstellung statt. Es folgen weitere Ausstellungsbeteiligungen im In-
und Ausland, doch auf den großen Kunstausstellungen der DDR sucht man Willy
Wolffs Arbeiten vergeblich. Erst 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, ist er mit
einem Werk vertreten.
Dass
es jetzt, nach einigen Einzelausstellungen diese doch recht umfangreiche
Retrospektive gibt, hier in Dresden, in Willy Wolffs Heimatstadt, ist
vielleicht so etwas wie eine späte, wenn auch symbolische Wiedergutmachung. Den
Galeristen und Leihgebern sei dafür ausdrücklich gedankt. Ich wünschte mir,
dass vor allem viele junge Menschen – und zwar nicht nur aus Dresden
– diese Ausstellung sehen, sich auf Willy Wolffs Kunst einlassen und
dabei etwas über die komplizierte Geschichte des 20. Jahrhunderts lernen, auch
über die Freiheit der Kunst in einem unfreien Land. Willy Wolff zählt zu den
bedeutenden Künstlern seiner Zeit. Der heutige Abend bestärkt mich in der Hoffnung,
dass sein Lebenswerk nicht in Vergessenheit gerät.
1 Lothar Lang: Begegnungen im Atelier, Berlin 1975, S.
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