zwei Künstlerpersönlichkeiten, denen wir uns heute zuwenden wollen, die in
einer Ausstellung miteinander vereint auf den ersten Blick nur schwer in
Übereinstimmung zu bringen sind. Erst aus einer höheren Sicht kann man
vielleicht eine gewisse „Verzahnung“ der Handschriften ausmachen. Wir wollen
großzügig urteilen und nicht allzu richterlich erscheinen. Wenden wir uns
zuerst dem kleineren Part dieser Ausstellung zu, sprechen wir von
Annemarie Balden-Wolff zunächst, und über die wenigen Arbeiten, die Sie im
Kabinett sehen können:
Vor Jahren war Annemarie Balden-Wolff in der Kunstausstellung Kühl und in der
Dresdner Sezession 89 vorwiegend mit Applikationen gewürdigt worden. Hier nun
vor allem Zeichnungen und Collagen. Es handelt sich um assoziative Rhythmen
und Improvisationen, die auf ein erstaunliches Formgefühl der Künstlerin
hinweisen. Alles ist in einem, mehr oder weniger, sehr spontanen Prozess
entstanden. Ein ironischer und heiterer Ton ist nicht zu verkennen.
Annemarie Balden-Wolff hat Anregungen der Dadaisten und Surrealisten
aufgenommen. Sie entnahm sie vorwiegend der Literatur. Kunst begriff sie als
Spiel, und es bereitete ihr sichtlich Vergnügen aus einem Chaos von Einzelformen
paradoxe Bilder voller Spannungen zusammenzufügen. So was war in den sechziger
Jahren hier verpönt, und solche gefühlsmäßigen Assoziationen auszustellen, war
gefährlich. Darum wussten nur wenige vom Werk der Balden-Wolff. In
Federzeichnungen herrscht zuweilen sogar ein klassisches Maß. Ein Hang zur
Klarheit, wenn man so will. Der Bildgegenstand wird durch ein Gespinst feinster
Linien bezeichnet und von einem Liniennetz gehalten. Sind das womöglich entfernte
Ableger einer geometrisch-konstruktivistischen Formenwelt?
Annemarie Balden-Wolff, in Rüstringen (jetzt Wilhelmshaven)(Oldenburg) 1911
geboren, kam autodidaktisch zur Kunst. Aufgewachsen in Berlin, besuchte sie
eine Textilfachschule. Über Prag war sie in den 30er Jahren nach England emigriert,
wo sie den Bildhauer Theo Balden heiratete. 1947 kehrte sie nach Deutschland
zurück. Und hier schloss sie 1956 eine zweite Ehe mit dem Maler Willy Wolff.
Als sie 1970 in Dresden starb, wusste kaum jemand etwas über ihr künstlerisches
Werk. Wer sich aber genauer mit Willy Wolff befasste, wurde ganz zwangsläufig
auch auf Arbeiten der Balden-Wolff hingeleitet. Schließlich verdankte Willy
Wolff seiner Frau eine Reihe wertvoller Anregungen. Sie war in mancher Hinsicht
sogar noch innovativer als er, auch konsequenter in der vollständigen Negation
des Überbrachten auf dem Wege zur absoluten Gegenstandlosigkeit.
Man denke da nur an ihre tachistischen Lackmalereien. Zum mehr rationalen Gegenpol
Willy Wolff gewissermaßen die gefühlsgebundenen Abstraktionen von Annemarie
Balden-Wolff!
Es scheint mir nicht denkbar, dass die Kunst – wenn wir in ihr ein subtiles
Instrument menschlichen Gewissens sehen wollen – auf die fundamentalen Fragen
des Lebens und der Zeit nicht reagieren würde. Kunst war magisches Werkzeug in
der Morgendämmerung der Menschheit. Und welche Rolle spielt sie wohl heute, da
es Vernichtungsstrategien ungekannter Größe gibt und allem Anschein nach die
Welt billig zugrunde geht?
Auch die Anfänge des Malers Wolfgang Frankenstein unmittelbar nach dem zweiten
Weltkrieg haben mit dem Leid der Menschheit in einer irrationalen Welt zu tun.
In einer Erzählung von Hans Lebert lese ich die Zeile: „Leben ist Zauberei, ein
Lauern im Dunkel, ein Schleichen um das Mysterium der Begattung“. Erfahrungen
eines magischen Lebenszusammenhangs, eines schicksalhaften Handlungszwangs,
sind wohl die prägenden Elemente der Malerei Frankensteins in den vierziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wir verzeichnen das Heraufkommen
unbewusster Urbilder. Im visuellen Bereich moderner Formgebung können wir die
Zeitresonanz ganz ähnlicher geistiger und ästhetischer Rückverbindungen bei Picasso,
Moore und Klee finden. Verwandtschaftliche psychische Situationen von
Urängsten, Existenzzwängen, nachzulesen in der Literatur von Joyse (der
sozialpsychologisch-tragikomische Ulysses!) über Kafka bis zu Becket. Frühzeichen
wie aus einer postillusionistischen Zeit! Es besteht ein Zusammenhang bis
heute.
Die dumpfe, grausame Zeit des Faschismus bedrohte die Existenz Frankensteins
unmittelbar. Unter der psychischen und physischen Belastung waren seine schöpferischen
Fähigkeiten nicht zur Entfaltung gekommen. Es gibt verschlüsselte Bilder
aufgrund der Gefahr unter der er lebte. Bilder der Verzweiflung, der Klage.
1945 erst beginnt für ihn das eigentliche Abenteuer Malerei. Was man entbehren
musste, die europäische Moderne wird aufgesogen. Mit fünfzehnjähriger
Verspätung dringen Kubismus, Surrealismus, Abstraktes ins Land. Man kann wieder
die französische Kunst studieren. Eine deprimierte Generation, missbraucht und
geschändet, steht vor neuen Ufern. Die Moderne bietet Reizmittel für alle
Suchenden. Der frühvollendete Wolfgang Borchert fasst in dem Theaterstück
„Draußen vor der Tür“ die Depression in die Worte: „Wir sind die Generation
ohne Bindung und Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund.“ Eine Lichtgestalt für
junge Künstler: der französische Philosoph Jean Paul Sartre mit seinem Existenzialismus.
1946 inszeniert Jürgen Fehling sein Stück „Die Fliegen“ am Hebbel-Theater in
Berlin. Der Einfluss damals ist enorm. Sartre gibt Antworten auf die inneren
Spannungen der jungen Leute nach den Zerstörungen und dem Erlebnis der
Barbarei. Die Philosophie anarchischen Zuschnitts ist willkommen. Auch Albert
Camus wirkt anziehend. Wie sagt er doch über die zerstörten Städte: „Sie bieten
uns ein Bild dieser vom Fleisch gefallenen und vor Hochmut zum Skelett
gewordenen Welt, in der Gespenster durch eine monotone Apokalypse irren, auf
der Suche nach einer verlorenen Freundschaft.“ Das sind Worte, die auch auf den
geistigen Hintergrund der frühen Bildwelt Frankensteins zielen, auf seine, wie
man sagen möchte, „Dokumente einer heillosen Zeit“. Vieles wurde probiert, geprüft,
auf der Suche nach Motiven.
Es entstanden Kompositionsskizzen in unzähligen Variationen. Abstraktionen trieb
man so weit, dass am Ende nur noch geometrische Gebilde, Kuben, Zylinder übrig
blieben. Jeder kennt solche Traumgegenstände, die in den Bildern Frankensteins Gestalt
annehmen. Es sind vielfach die Versatzstücke der Surrealisten. Abstrus, aus
Zufällen der Eingebung entstanden! Sie ergeben sich aus dem Ablauf der
Mechanismen der Phantasie und vielleicht nicht so sehr aus einem formbestimmten
künstlerischen Wollen. Vielfach sollten in großen vereinheitlichten Formen
symbolhafte Bezüge aufleuchten, der Schmerz, die Angst zum Beispiel.
Vielsagende Titel: „Großer Vogel“, „Kosmischer Käfig“, „Giftige Blumen“,
„Spiegelung“, „Kosmisch-organisch“.
Das Gefühl soll berührt werden.
Der expressive Wert der Farbe wird bis zum Äußersten ausgenutzt. Dann aber auch
der Versuch, „vom Zwang des Übersetzenwollens“, wie es der Künstler nennt,
loszukommen, sich mehr und mehr dem Spiel mit Formen hinzugeben. Wir erleben
bei Frankenstein ganze Kettenreaktionen von Varianten und Abkömmlingen. Er
sprach einmal von „Kristallisationskernen“, von „vagen Formbruchstücken“, die
plötzlich eine Gestalt ergeben, so wie ein „Stäubchen in eine übersättigte
Salzlösung geworfen, Kristallisation bewirkt.“
Dann Bilder, mit merkwürdigen Ungetümen: „Flucht der Tiere“, „Tiefseewalzer“,
„Vogelfalle“. Vogelbilder und anders Getier! Unterwasserbilder mit gesunkenen
Schiffen, Ruinengebilde, sphärische Landschaften, Bilder mit Seesternen.
Meeresbilder! Man könnte meinen, es ist da ein Weg aus der Welt angezeigt,
ins Unsagbare, Uferlose. Dem Meer fühlte sich Frankenstein immer hingezogen.
In vielen Bildern lebt daher wohl eine Sehnsucht. Das Meer, das Unergründbare!
In der Mythologie symbolisiert der Ozean das Meer des Lebens, im Chinesischen
gar das Ursprüngliche und Unerschöpfliche, die unendlich göttliche Weisheit
in der hinduistischen Religion! Das Meer, das alles in sich vereint, aufnimmt,
auch das Chaos des Irdischen, aus dem aber auch wieder Leben entspringt. Unbewusst
schwingt Solches bei Frankenstein mit. Der alte und ewig junge Fahrensmann, der er
einmal sein wollte, auf der Suche nach dem Uranfang. Es ist wohl auch die Suche
nach etwas Letztem, Endgültigen, nach einem Zustand jenseits aller Probleme,
hinaus in eine tödlich befreiende Weite.
So dunkel da manche Bilder auch sein mögen, so rätselhaft, es gibt auch Bildwelten
voller Glanz und Wärme, Anzeichen des Ausdrucks der Sehnsucht nach Schönheit,
Gleichgewicht, Freiheit, neben dieser Verzweiflung in einer irrealen Phantastik.
Die Bilder in Blautönen, wie das Meer!
In Zeichnungen und Radierungen wird wohl am augenscheinlichsten, dass der Nährboden
für die oft rätselhaften Phantasien des frühen Frankenstein in der Literatur zu suchen
sind. Es sind Bücher und Schriften, die der Existenzangst und der Verzweiflung der
Menschen nach dem Kriege Ausdruck verliehen haben. Auf Borchert hatten wir schon
verwiesen. Das Werk Franz Kafkas spielt eine große, fast übermächtige Rolle. Hinter
einigen Zeichnungen stehen ganz unmittelbar Leseeindrücke von Kafkas Werken.
Zeichnungen zur „Verwandlung“ zum Beispiel oder auch zur „Strafkolonie“.
Es ist der Symbolismus in Kafkas Wirklichkeiten, der aufgenommen wird. Kein
Wunder: Man lebt wie in einem Alptraum, und wirkliche Wahrheiten sind nur
schwer zu ertragen. Kafka spricht einmal von „Selbständigkeitsversuchen,
Fluchtversuchen mit allerkleinstem Erfolg“. Es ist ähnlich bei Frankenstein.
„Möglichkeiten der Hoffnung im scheinbar oder wirklich Hoffnungslosen“, wie
mein Lehrer, der Literaturhistoriker Hans Mayer feststellte, der seinerseits
bekennt, an Kafkas Sphäre „gesogen“ zu haben.
Einige Darstellungen mit Tieren oder Fabeltieren, auch Gestaltungen aus der Welt
des Zirkus mit vielen geometrischen Gebilden versehe, vielfach spitzen Formgebilden,
auch gerundeten Formen, stets in einer sehr sensiblen Zeichnung vorgetragen,
und manchmal in einer gesteigerten Bewegung, verdeutlichen keine visuellen Wirklichkeiten.
Alles gehört in die Sphäre der Erinnerung und des Traums. Und suggeriert wird
ein Gefühl der Abweichung von logischen Zusammenhängen. De Chirico meinte, der
Künstler müsse aus den „Grenzen des Menschlichen“ heraustreten. Das Mythische
und Phantastische des Surrealismus begleitet hier Frankenstein. Daneben findet
sich aber auch Kubistisches.
Erdachte Raumbilder werden einer klangvollen Ordnung zugeführt.
Im Spieldrang und in der Ungebundenheit der Form hat die abstrakte Phase des
Zeichners viel mit dem Jazz gemeinsam. Mit Freunden aus der Galerie Rosen, mit
Hans Uhlmann, Heinz Trökes, besucht Frankenstein Jazz-Konzerte. In Zeichnungen hält
man Eindrücke fest. Die Zeitschrift „Dionysos“ druckt die Ergebnisse ab, also das,
was man bei den zersplitterten Phrasen der Musik empfunden hat. Und es entsteht
etwas Verwandtes zum „getanzten Existenzialismus“. Auflehnung gegen das Pathos,
gegen große Gesten und leeren Pomp.
Die vierziger Jahre bezeichnen im Schaffen Frankensteins eine in sich abgerundete
Entwicklungsphase. Es werden entscheidende Entdeckungen in der Moderne gemacht:
Picasso, Klee, Kandinsky. Und wie bei Klee wird die sichtbare Natur zur
figürlichen Metapher, zum Zeichen und Sinnbild des Urtümlichen. Kristallisationen
und kosmische Räume treten ins Sichtfeld der Kunst. Inspirierend ganz
offensichtlich auch Ostasiatisches, Chinesische Kalligraphie zum Beispiel.
Da befindet sich Frankendstein in Korrespondenz zu anderen, zu Nay, zu Baumeister,
zu Trökes und durchaus nicht nur im Nachvollzug, sondern schöpferisch.
Die geschichtslose Zeit der Nazi-Jahre war dumpf und leer. Für Frankenstein ein
Passionsweg des Überdauerns!“ Und was dann begann führte zunächst in die Unterwelt
der Magie. Zugleich sollte man aber auch erkennen, was für ein Formwille den Künstler
damals beschäftigte.
Es waren Versuche, aus dem widerwärtigen chaotischen Sein der ersten
Nachkriegsjahre auszubrechen. Das Ergriffensein des Malers ist wohl spürbar,
der Versuch auch, das schwer zu Verstehende aufzulösen, das Triviale in verlockende
Farben und Reize zu kleiden, vielleicht im Sinne von Baudelaire, dessen „Blumen
des Bösen“ auch so etwas wie ein Kultbuch dieser Generation war, „das Schreckliche
kunstvoll auszudrücken“, wie es dort heißt, dass es zur „Schönheit wird und dass
der rhythmische, gegliederte Schmerz den Geist mit einer ruhigen Freude erfüllt“.
Gert Claußnitzer